Textbeispiele & Schreibanregungen

Was man von hier aus sehen kann[1]

Weite. Weite. Weite. Was man von hier aus sehen kann, spukt es der jungen Frau durch den Kopf. Wie beiläufig. Wie eine Warteschleife am Telefon. Gleichzeitig spürt sie den Boden unter ihren Füßen. Und wieder: Was man von hier aus sehen kann. Was sie von hier aus spüren kann ist der feste Boden unter ihren Füßen. Fest und gleichzeitig weich. Sicher und gleichzeitig flexibel. Nichts auf der Welt könnte sie von diesem Standpunkt wegstoßen, umreißen, umhauen. Sie fühlt sich frei und dennoch sicher. Geborgen auf diesem Flecken Erde, geborgen in diesem Moment. Ein Feldweg, der in zwei Richtungen führt.

Sie dreht sich noch einmal um und blickt zurück. Hinter ihr liegt das immer kleiner werdende Haus. Sie betrachtet die geöffnete Tür des Gartentors. Wie schwierig es war, dort hindurchzugehen. Voller Angst und Aufregung, aber auch voller Vorfreude tat sie es dennoch. Sie spürt Traurigkeit über den festen Feldwegboden und über ihre Beine entlang in den restlichen Körper aufsteigen. Die Kehle schnürt sich zu. Bilder tauchen auf, was war, was nicht war, was noch unausgesprochen ist. Bilder, die sie immer noch quälen, am Loslassen hindern. Es ist okay traurig zu sein, sagt eine Stimme in ihr. Ich möchte noch ein wenig zurückschauen, auch wenn es wehtut. Ich möchte noch ein wenig innehalten, bevor ich weitergehe. Ich möchte bewusst abschließen und es ist genau richtig, so wie es gerade ist.

Dann wendet sie sich wieder dem Feld zu. Was man von hier aus sehen kann, spricht es wieder in ihr. Ein Feld mit Hügeln, die wärmespendenden Sonnenstrahlen im Gesicht. Weit hinter ihr liegt das sich immer weiter verkleinernde Haus. Weit vor ihr liegt der Weg, den sie nun klar vor sich sieht. Der sich wie von Geisterhand immer weiter und klarer vor ihr ausbreitet, von blühenden Wiesen umringt. Sich der jungen Frau zu Füßen legt. Bedingungslos. Erwartungslos.

Sie spürt den Impuls aufsteigen, diesen Feldweg nun weiter zu gehen. Die Zeit dafür ist gekommen, war ohnehin schon längst gereift, aber sie konnte lange nicht den Mut zu greifen bekommen, den ihr so vertrauten Pfad endgültig zu verlassen und die Tür des Gartentors zu öffnen. Zuviele Fragen hielten ihren Atemraum beschäftigt, trübten die klare Sicht. Doch jetzt war es endlich so weit. Mit klopfendem Herzen, kribbelndem Bauch und einer noch immer leicht zu geschnürten Kehle macht sie sich auf ihren Weg. Ist überrascht, dass der flexible Feldweg sie auch weiterhin trägt. Vor ihr liegt ein herrlich duftender Wald. Saftiges Grün dringt in ihre Augen, umhüllt ihre Brust mit klarer Luft. Als sie schließlich am Ende des Feldweges ankommt, dreht sie sich noch einmal mit Tränen in den Augen um, erkennt nur noch chimärenhaft die Umrisse des Hauses, geht weiter auf den Wald zu und verschwindet hinter den Bäumen.

 Schreibanregung:

Wie könnte die Geschichte weitergehen?

 

[1] Titel in Anlehnung an den gleichnamigen Roman von Mariana Leky.

 

Borderlein

 

Du bist alles für mich. Ich liebe dich. Ich unterstütze dich. Ich sehe dich und mich. Ich wertschätze dich und möchte dir Gutes tun. Ich weiß, was ich brauche, ich weiß, was du brauchst. Ich bin dir wohlgesonnen und fühle mich verbunden mit dir und der Welt. Manchmal hebe ich dich und mich über große Berge und stelle dich auf Wolken auf. Ich fließe und lasse fließen, ich bin flexibel. Im Denken, Fühlen und Handeln. Meine Maske ist hellgrün und gelb gesprenkelt. Ich lächle und bin entspannt. Freundliche Worte fließen aus meinem Mund wie warmer Honig, der das Gemüt trauriger Bären erhellt. Die Sonne strahlt mir gleichzeitig ins Gesicht und warm in die Lenden. Ich stehe fest auf dem Boden und bin stabil. Doch dann spüre ich die Fratze in mir aufsteigen. Sie bahnt sich ihren Weg durch meinen Magen, die Speiseröhre entlang, die sie beinah verätzt, bis sie sich großzügig und vollständig über Kopfhaut und Gesicht spannt. Die Augen starr, der Mund gepresst, die Züge eisern. Manchmal reicht ein Blick, manchmal ein Wort, manchmal ist es einfach das Ungleichgewicht in meinem Hormonhaushalt oder das Zulange-Nichts-Essen, das diese Fratze von mir Besitz ergreifen lässt. Manchmal kommt sie raus, weil es nicht nach meinem Plan läuft oder ich eingeengt werde. Ich fühle mich dann wie fremdgesteuert von dieser Kraft, die mich ganz einnimmt. Die mir keinen Platz zum Atmen, kein Schlupfloch lässt. Keinen Winkel, in dem es bunt oder luftig bliebe. Die Farbe der Fratzenmaske ist feuerrot. Aber niemand erkennt diese Farbe. Nur Fratzenkenner sehen unter der Hülle das Rot hindurchschimmern. Vor den meisten kann ich die Fratze gut verbergen. Unter der Hülle drohe ich aber schier zu verglühen. Meine Augen quillen raus, der Hals zugeschnürt, die Brust gespannt, der Solarplexus nahe der Explosion. In diesem Augenblick beginne ich dich zu hassen, möchte dich am liebsten vernichten. Verabscheue dich abgrundtief. Möchte mich über dich lehnen, dich unterdrücken, dir ins Gesicht springen. Einschüchtern, kleinmachen, niedermachen. Zertrampeln, zerschlagen, zerquetschen wie eine Ameise. Dich und die Welt vernichten. Keine Spur von Liebe und Wertschätzung und Würde. Kein Du und Ich. Kein Platz für Wir. Nur blanker Hass. Eine Festung, aus der es kein Entrinnen gibt. Nicht einmal die Vorstellung eines Dus existiert in diesem Moment, gar die Idee eines beseelten Körpers außer mir. Ein kleiner Hauch von Bewusstsein flüstert mir ins Ohr, dass ich die Fratze besiegen könnte, wenn ich denn wollte. Sie haucht mir Schuld und freien Willen ins Ohr. Ein leises Raunen, das mich nur noch wütender macht. Einen Scheiß kann ich. Und ich will es auch nicht. Ich bin die Fratze und verachte dich und die Welt und lasse niemanden an mich ran. Du kannst mich mal. Ihr könnt mich alle mal. Mir ist alles egal. Ich bin sowieso allein. Du lässt mich sowieso wieder allein. Du lässt mich sowieso im Stich. Jetzt kommt meine wahre Persönlichkeits ans Licht. Der Rest war nur Fake, ich habe dich geblendet, dich bezirzst, dich manipuliert. Das bin ich nicht. In Wahrheit bin ich nur eine Fratze, die dich hasst, die nie zu Liebe fähig wäre. Ich bin ein Nichts. Ich bin allein. Ich bin wertlos. Ich kann nicht mehr, schäme mich abgrundtief. Möchte nicht dabei gesehen werden, wie mein Ich nur noch aus Fratze und Verachtung besteht. Dann ist es vorbei. Urplötzlich. Shutdown. Ich fühle auf einmal gar nichts mehr. Das Glühen wird weniger. Die Fratze zieht sich zurück. Mein Körper sackt zusammen. Ich bin kraftlos, werde zusehends kleiner, schrumpfe, spüre jeden Lebenshauch meinen Fasern entweichen. Möchte nur noch sterben. Breche zusammen und..   

 

Schreibanregungen:

#   Schreib den inneren Monolog weiter!

#   Verfasse ein optimistisches/versöhnliches/überraschendes Ende für den Text!

#  Schreib einen eigenen inneren Monolog, in welchem du die Übergänge zwischen verschiedenen   

     Persönlichkeitsanteilen mit ihrer jeweiligen Innen- und Außenwirkung beschreibst! Die Anteile

     dürfen auch miteinander streiten oder sich verbünden.

#  Schreib eine Geschichte zum Thema „Meine Masken“, in welcher du deine verschiedenen  

    Rollen  im Alltag näher beleuchtest und diese dabei vielleicht auch selbst zu Wort kommen lässt!

 

Weitere Beispiele für Persönlichkeitsanteile: Inneres Kind, Perfektionist, Everybodys Darling, Kastrophierer, Furie, Nörgler, Rechthaberin, Kritiker, Optimist, Tänzerin, Antreiber, Freiheitsliebe, Zweifler, Hoffnungsträger, Zuversicht, Größenwahn, Wutzwerg, Pessimistin, Kleinheitswahn, Kontrolleur, Träumerin.

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